Letztes Jahr habe ich innerhalb einer Woche alle Bücher von Michael Tsokos gelesen und als ich hörte, dass er an einer neuen Publikation arbeitet, war es klar, dass ich sie lesen muss. Letzte Woche erschien das Buch und als ich den Titel sah, war es klar, dass es mit den vorherigen nicht viel gemeinsam hat.
Dieses Mal hat Tsokos, zusammen mit seiner Arbeitskollegin Saskia Guddat, ganz anderes Thema aufgegriffen. Sicherlich hängt es mit seiner Arbeit zusammen, für den Leser wird dieser Wandel vermutlich überraschend sein. Das Autorenpaar widmet sich den Toten nur mittelbar, im Vordergrund stehen die Kinder. Es sind Kinder, die keine unbeschwerte Kindheit genießen können, sondern tagtäglich misshandelt werden. Tsokos und Guddat verschönern nichts, sie verschweigen auch nichts. In klaren, nüchternen Worten gehen sie auf das Schicksal dieser Kinder ein, analysieren die Ursachen dafür und, was ich am wichtigsten finde, unterbreiten konkrete Vorschläge, wie man diese Situation ändern kann.
Die Fakten sind ernüchternd - jede Woche werden in Deutschland rund siebzig Kinder misshandelt, jede Woche sterben in Deutschland drei Kinder infolge der Misshandlung. Dabei wurde die Dunkelziffer noch gar nicht miteingerechnet. Jeden Tag, irgendwo in Deutschland, leiden Kinder - meistens Kleinkinder, fast immer sind sie Opfer ihrer Eltern oder deren Partner. Unfassbar, skandalös und kaum zu glauben.
Der Leser fragt sich automatisch, wie diese Misstände in einem hochentwickleten, reichen Staat wie Deutschland möglich sind.
Tsokos und Guddat halten die Antworten parat.
Die Jugendämter verfügen über genug Geld, das jedoch falsch disponiert wird. Die problematischen Familien werden regelmäßig von ihren Betreuern besucht. Die meistens jungen, engagierten Mitarbeiter blicken optimistisch in die Zukunft, bauen eine in ihren Augen gute Beziehung zu den Familien auf, indem sie die Besuche ankündigen, indem sie die Fortschritte der Familie dokumentieren und gleichzeitig die Augen auf das Leid der Kinder verschliessen. Das passiert aus mehreren Gründen - Unerfahrenheit, Zeitdruck, fehlende rechtsmedizinische Kenntnisse spielen sicherlich eine große Rolle.
Die Überzeugung, dass ein Kind bei seinen Eltern am besten aufgehoben ist, geht meistens nach hinten raus. Die Eltern, die misshandeln, werden durch Besuche der Sozialmitabeiter nicht geheilt, meistens leiden sie unter einer psychischen Störung, wurden in der Kindheit selbst schwer misshandelt und sind nicht imstande aus diesem Teufelskreis rauszukommen.
Ähnliches passiert bei vielen Kinderärzten, die Misshandlungsspuren nicht erkennen, die wegsehen, die es nicht glauben, dass Eltern zu solchen Taten fähig sind. Durch einfache Ausreden lassen sie sich einlullen und haken häufige Verletzungen der Kinder als Folgen kindliches Ungeschicks oder Geschwisterraufereien ab.
Sogar die Richter und Schöffen lassen sich durch das ordentliche Aussehen der Eltern täuschen und geben den von den Rechtsmedizinern geschilderten Verletzungen keinen Glauben. Zugunsten der Eltern muss das Gericht auch entscheiden, wenn die Tat keiner Person direkt zugewiesen werden kann. Nicht selten entlasten die Eltern sich gegenseitig und gehen aus dem Gerichtsaal mit ihrem Kind nach Hause.
Eine Obduktionspflicht oder zumindest Leichenschau bei aller Kindern mit ungeklärter Todesursache würde viel Klarheit schaffen und zumindest den Geschwisterkindern zugunste kommen.
Man muss hinzufügen, dass auch in diesem Buch zahlreiche Fälle aus der medizinischen Praxis der Autoren skizziert werden - sicherlich keine leichte Lektüre - sie dominieren jedoch nicht, sollen lediglich das Ausmaß der Misshandlung aber auch die verschiedenen Situationen, in denen es dazu kommen kann, illustrieren und veranschaulichen.
Viel wichtiger ist der letzte Teil, in dem Tsokos und Guddat konkrete Lösungsvorschläge für die Verbesserung der Lage der misshandelten Kinder unterbreiten. Ich hoffe sehr, dass dieses Buch eine weit gefächerte Debatte in Deutschland hervorrufen wird. Änderungen im System und vor allem im Bewusstsein der Deutschen sind dringend nötig.
Deswegen möchte ich, liebe Leser, gemeinsam mit den Autoren bitten - verschließt eure Ohren und Augen nicht, seid wachsam und helft den Kindern! Nur wir Erwachsene können etwas für sie tun!
Michael Tsokos, Saskia Guddat mit Andreas Gößling, Deutschland misshandelt seine Kinder, 254 Seiten, Droemer 2014.