Samstag, 12. Februar 2011

"Nebelsturm" Johan Theorin


Johan Theorins "Öland" hat mich wider Erwarten nicht begeistert, der Autor bekam jedoch von mir eine weitere Chance. Zum Glück. Denn "Nebelsturm" fand ich viel besser und habe das Buch regelrecht verschlungen.
"Nebelsturm" ist kein typischer Krimi, das Rätsel und die Ermittlungen stehen im Hintergrund. Eigentlich weiß der Leser zum Schluss nicht, ob es überhaupt einen Mord gab.

Das Ehepaar Katerine und Joakim Westin ziehen von Stockholm nach Öland um - sie möchten der Großstadt, dem Lärm und der Anonymität entkommen. Auf Öland haben sie ein altes, großes Haus gekauft, das früher durch Leuchtturmwärter benutzt wurde. Katerine, Joakim und ihre zwei Kinder sind von dem alten Haus, dem Grundstück und den zwei Leuchttürmen begeistert und fangen mit voller Elan das Gebäude zu renovieren. Åludden soll zu alter Pracht zurück kehren.
Gleichzeitig zieht nach Öland Tilda um - sie ist die neue Polizistin, die die frei gewordene Stelle übernehmen soll.
Theorin führt noch eine dritte Handlungsebene ein - drei junge Männer suchen leer stehende Sommerhäuser aus und plündern sie.
Man muss lange warten bis sich die drei Geschichten miteinander verbinden aber es lohnt sich! Bis das geschieht präsentiert Theorin nämlich allerlei: beschreibt die Trauerarbeit von Joakim, führt schwedische Legenden ein und macht aus Åludden und den beiden Leuchttürmen beinahe einen Haupthelden. Nicht zu vergessen die Atmosphäre, die er schrittweise aufbaut - man spürt wortwörtlich es kalt über den Rücken laufen - das Haus knarrt, die Tür des Schuppen öffnetsich selbständig, man hört Stimmen, es werden versteckte Räume entdeckt und der nördliche Leuchtturm fängt an zu leuchten, um einen kommenden Todesfall vorauszusagen.
Das alles geschieht im öländischen Winter - es ist kalt, bitterkalt, es ist windig und ungemütlich. Es wird aber noch schlimmer, wenn der fåk kommt - ein Sturm, der Unmengen vom Schnee mit sich bringt und immer menschliche Opfer fordert. Theorin beschreibt suggestiv, kühn, intensiv. Die Landschaft ist rau und karg, der Tag kurz, die unheimliche Nacht ewig lang. Theorins Beschreibungen sind, im Vergleich zu seinem ersten Roman, länger und detaillierter - ich hoffe, dass er nicht an Larssons Niveau kommen wird - das wäre doch Schade!

Die Auflösung des Krimis bleibt ebenfalls spannend - zum Glück. Nett fand ich es, dass Theorin an sein erstes Buch anknüpft und zum Beispiel Gerlof Davidsson zurück kommen lässt.

Meine Bewertung: 5/6

Johan Theorin, Nebelsturm, übersetzt von Kerstin Schöps, 447 Seiten, Piper.

Freitag, 11. Februar 2011

"Tauben fliegen auf" Melinda Nadj Abonji


Ildikó wohnt mit ihrer Schwester Nomi und den Eltern in der Schweiz. Die ganze Familie besitzt (nachdem die Bewohner positiv abgestimmt haben) schweizer Pässe. Trotzdem sind sie keine Schweizer - weder in ihren Seelen, noch in den Augen der Nachbarn. Ursprünglich kommen sie aus Serbien. Sie sind aber keine Serben, da sie aus Vojvodina stammen und der ungarischen Minderheit angehören. Die Mädchen kamen in die Schweiz noch bevor sie eingeschult wurden, also sprechen sie nicht ein Mal serbisch. Ildikó - die ältere der Schwestern ist die Hauptprotagonistin, die indem sie die Geschichte der Familie erzählt, sich bemüht ihre Identität zu definieren.

Die Familie Kocsis versucht sich mit harter Arbeit ihre soziale Stellung in der Schweiz zu erarbeiten - zuerst reisen aus Serbien die Eltern aus, mit verschiednen Jobs versuchen sie so schnell wie möglich eine finanzielle Grundlage zu schaffen, damit ihre Töchter nachkommen können. Später eröffnet die Familie eine Wäscherei, dann ein kleines Café, um schließlich das repräsentativste Café der Stadt zu übernehmen.
Regelmäßig fahren die Kocsis nach Vojvodina. Jeder Besuch wird unruhig erwartet und von einer großen Frage begleitet - hoffentlich hat sich nichts verändert in der alten Heimat! Die Mädchen lieben das Land ihrer Kindheit, die warme Umarmung ihrer Oma (Mamika genannt), die große Familie, den Bauernhof und alle Tiere. Weiterhin empfinden sie Vojvodina als ihre Heimat, das Land der ewigen Glückseligkeit.

Mit den Jahren zerfällt das ideale Bild immer mehr - der Tod von Tito, die Gespräche ihres Vaters und Onkels über Politik, die immer im Alkoholrausch enden, die Erinnerungen der Mamika an den Lageraufenthalt des Großvaters, die Verfolgungen und schließlich der Ausbruch des Balkankrieges rütteln an den idyllischen Vorstellungen der Mädchen.
Der Balkankonflikt wird nur aus der schweizer Perspektive dargestellt - es fehlen Einzelheiten zu Kriegshandlungen, dafür bemüht sich die Autorin die Empfindungen der im Ausland lebenden Jugoslawen darzustellen. Jeder Schweizer wird zum Balkanexperten - das Zuhören und gleichzeitig das Aufsetzen des höflichen, unbeteiligten Lächelns einer Kellnerin wird für Ildikó unausstehlich.

Das Leben zwischen zwei Welten, die Konfrontation mit den Flüchtlingen, die Suche nach eigener Identität sowie die zunehmende Auflehnung gegenüber der Eltern, die jede ausländerfeindliche Attacke hinnehmen, bedrücken Ildikó. Immer mehr wird es ihr bewusst, dass das Studieren der schweizer Geschichte sowie die perfekte Beherrschung der Sprache noch lange nicht ausreichen, um sich in der Schweiz zu Hause zu fühlen und auch von den Schweizer akzeptiert zu werden. Gleichzeitig erkennt sie, dass sie diese Tatsache zu ihrem Vorteil nutzen kann.
In "Tauben fliegen auf" beschreibt Abonji nicht nur den schweren Prozess der Adaptation und der Integration sondern auch die langsame Trennung vom Elternhaus.

Nicht nur der Inhalt des Romans kann begeistern, auch die Sprache besticht. Lange, mehrfach zusammengesetzte Sätze, die jedoch nichts an Leichtigkeit verlieren sind die größte Stärke der Prosa von Abonji. Es gelingt ihr gleichzeitig raffiniert zu schreiben und eine Illusion zu schaffen, dass man einem Gespräch zwei Freundinnen zuhört. Abonjis Prosa hat ihre eigene Melodie und begeistert mit intelligentem Witz.

Meine Bewertung: 5/6

Melinda Nadj Abonji, Tauben fliegen auf, 315 Seiten, Jung und Jung