Dienstag, 17. Mai 2011

"Der Turm" Uwe Tellkamp


Das beinahe ein Tausend Seiten starke Buch hat mich, muss ich ehrlich zu geben, gefordert. Die Lektüre erstreckte sich über mehrere Wochen und mit einem gewissen Stolz habe ich letzte Woche den Roman aus den Händen gelegt. Tellkamps Werk erfordert nämlich viel Aufmerksamkeit seitens des Lesers. Man kann den Roman nicht mal zwischendurch lesen - nicht nur wegen der anspruchsvollen Sprache, ganz prosaisch, auch wegen des Gewichts. Trotzdem wollte ich unbedingt das hochgelobte und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Werk kennen lernen und bedauere es keinesfalls.

"Der Turm" scheint eins der ersten Bücher zu sein, die so umfangreich und detailliert den Alltag in der DDR schildern. Die Handlung fängt kurz nach Breschnews Tod, 1982 an und endet am 9. November 1989. Tellkamp platziert sie in einem bürgerlichen Viertel von Dresden, wo hauptsächlich Wissenschaftler, Künstler und hochgebildete Menschen leben. Dort wohnt auch Familie Hoffmann - Vater Richard ist ein bekannter Chirurg, Mutter Anne arbeitet als Krankenschwester, deren zwei Söhne besuchen noch die die Schule. Der ältere Christian - ein fleißiger, in sich verschlossener und wissbegieriger Schüler wird zu einem der Hauptprotagonisten des Romans. Der Bruder von Anne - Meno - ist eine weitere wichtige Gestalt. Er arbeitet als Lektor in einem der Dresdner Verlage und schwärmt von eigenem Roman. Fragmente seines Tagebuches, in denen er die aktuellen Geschehnisse kommentiert, werden in und wieder in die Handlung eingebunden.

Auf den ersten Seiten seines Romans, beschreibt Tellkamp Richards fünfzigsten Geburtstag. Dieser Anlass eignet sich dem Leser alle Mitglieder der Familie vorzustellen. Die Geschwister von Richard und Anne sowie ihre Kinder, die Eltern, die Mitarbeiter von Richard bilden einen bunten Querschnitt durch die Gesellschaft. Gleichzeitig wird die Handlung ganz deutlich im ostdeutschen Alltag platziert - die ausländischen Leckereien begeistern die Gäste, ungewöhnliche Geschenke überraschen den Jubilar und die Tristesse der Umgebung wird durch das Konzert, das die jüngste Generation (fast alle spielen ein Instrument) gibt, gebrochen.

Klassische Musik, Literatur, Kunst, der Glaube an Humanismus - eine Denkweise, die in der DDR verpönt war - bezeichnen die Lebensweise der Protagonisten, die auf diese Weise versuchen die bürgerliche Kultur aufrecht zu erhalten und gegen die sozialistische Einheitshaltung zu protestieren.
Jedes Mitglied der Familie kommt in gewisser Weise mit dem politischen System in Berührung. Richard ist in politische Abhängigkeit von seinem Chef verwickelt, ärgert sich über den schlechten Zustand des Krankenhauses, fehlende Möglichkeiten für Forschung und dass er mit den Kollegen aus dem Westen nicht mithalten kann. Gleichzeitig wird er von Stasi erpresst, die dazu seine Jugendsünden und die Parallelbeziehung mit der Chefsekretärin benutzt.
Christian besucht die letzte Klasse des Gymnasiums, steht vor der Wahl des Studiums, die davon stark abhängig ist, ob er "freiwillig" für drei Jahre in die NVA geht. Die korrekte Haltung im Unterricht spielt ebenfalls eine große Rolle.
Meno wiederum bemüht sich in seinem Beruf als Lektor sowohl den Schriftsteller als auch den Zensor zufrieden zu stellen. Dank seiner Arbeit hat er viele Kontakte zu damaliger "roter" Elite, kann die Gespräche und politische Entscheidungen aus erster Hand verfolgen, was die Ursache für seinen Rückzug ist. Er igelt sich immer mehr ein und widmet sich seinen zoologischen Interessen.
Während Tellkamp das Schicksal der Familie schildert, liefert er unfassbar detaillierte Beschreibungen des Dresdener Alltags - Schlangen in den Geschäften, beengte Wohnverhältnisse, Kampf um Lebensmittel und Heizbriketts, öffentliche Badehäuser, Bürokratie und vor allem die ständige Angst vorm Bespitzeln. Gleichzeitig findet man im Roman viele fast idyllische Beschreibungen des Viertels - alte, verfallene Villen mit verwilderten, geheimnisvollen Gärten wirken beinahe märchenhaft. Der Leser schwelgt in Nostalgie und vermisst das alte Dresden aus der Vorkriegszeit. Recht interessant wirken die Beschreibungen des Sperrbezirks, wo nur die hochgestellten Funktionäre wohnen durften.

Tellkamps Schreibstil kann begeistern, man muss ihm aber erst eine Chance geben. Die langen, mehrfach zusammengesetzten Sätze, die Anhäufung von Adjektiven und Metaphern verlangen nach Aufmerksamkeit und Konzentration. Der Autor hat einen Roman geschaffen, der auf die Tradition der großen epischen Werke und des Bildungsromans zurück greift. Ich fühlte mich mehrmals an "Buddenbrooks", Kellers "Der grüne Heinrich" sowie Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" erinnert. Tellkamp nutzt jedoch auch eigene Erfahrungen - ähnlich wie Christian diente er in einer Panzereinheit der NVA und wollte Medizin studieren.

Der etwas pathetische Romananfang kann den Leser abschrecken, es lohnt sich jedoch weiter zu lesen, auch wenn hin und wieder die eine oder andere Passage überflüssig vorkommt.
Aus Tellkamps Beschreibungen wächst nämlich allmählich ein Epos heraus, eine einmalige Studie der ostdeutschen Gesellschaft.

Meine Bewertung: 4,5/6

Uwe Tellkamp, Der Turm, 973 Seiten, Suhrkamp.

Montag, 9. Mai 2011

"Liebe Isländer" Huldar Breiðfjörð


Huldar wohnt in Reykjavík, genießt das Nachtleben und reist viel, vornehmlich ins Ausland. Island interessiert ihn nicht besonders, bis er eines Tages auf die Idee kommt, so viel Island wie möglich wahrzunehmen, um die eigene Heimat wieder neu für sich zu entdecken. Folglich beschliesst er die Insel auf der Ringstraße zu umrunden. Die Expedition soll in den zwei typisch isländischen Monaten statt finden - im Januar und Februar.

Die Reise soll nicht nur dazu dienen, Island zu erkunden, gleichzeitig soll sie Huldar helfen "aufzuwachen" - er hat genug von seinem Alltag, immer den gleichen Kneipen, der gleichen Musik und dem öden Gerede mit den Kumpels. Es ist höchste Zeit sein Leben zu verändern.
Bevor er aber die Reise antreten kann, muss noch etwas wichtiges erledigt werden - Huldar braucht ein Auto, das etwas aushält. Ein Auto mit Seele. Nach einer langen Suche findet er einen Volvo Lappländer, der sein Reisegefährte werden soll.
Die Reise beginnt - Huldar fährt zuerst in die Westfjorden und noch bevor er dort ankommt, ist er kurz davor seinen Projekt zu unterbrechen. Das Wetter ist katastrophal, die Straße glatt und löchrig. Huldar kämpft mit Wind, Eisglätte, schlechter Sicht und fürchtet ständig, in den Fjord abzustürzen. Für solch einen Stadtmenschen wie er, ist die Fahrt ein wahres Überlebenstraining.

Der Kampf gegen das Wetter und die Natur wird zum Hauptthema des Romans - Huldar gibt nicht auf und kämpft sich bei Eiseskälte, ständig kurz vom tödlichen Absturz in den Fjord, in die abgelegensten isländischen Dörfer durch.

Er plante so viele Bauernhöfe und Dörfer wie möglich zu besuchen und hatte vor Gespräche mit den gewöhnlichen Isländern zu führen. Um die Kontaktaufnahme zu vereinfachen, hat Huldar Bücher zum Verkauf mitgenommen.
In jedem Ort besucht er zuerst den Kiosk oder die Tankstelle und trinkt einen Kaffee. Meistens ist es auch der einzige Platz, an dem er Menschen trifft. Die Straßen sind meistens leer.
Obwohl so viele Gespräche geplant wurden, hat Huldar bis zum Schluss einige Schwierigkeiten mit den wortkargen Isländern, ungezwungene Gespräche zu führen. Immer wieder muss er sich aufs Neue wundern, dass die Bewohner der entlegensten Ecken mit ihrem Leben zufrieden sind und nichts vermissen. Dabei gilt Reykjavík als Inbegriff einer großen Stadt mit seinen 120.000 Einwohnern.

Während eines ungewöhnlich starken Sturmes verbringt Huldar ein paar Tage in einer Pension am Myvatn-See. In der Zeit versucht er den Sinn seines Lebens neu zu definieren und sein "ich" zu entdecken. Bei den Versuchen entstehen keine erfinderischen Theorien, eher enden sie damit, dass Huldar die ganze Nacht im Fernsehzimmer auf dem Sofa schlafend verbringt. Man muss zugeben, dass Huldar die Nacht nackt (zur besseren Selbstfindung) verbringt und morgens von der Pensionsbesitzerin aufgefunden wird.

Wie ihr vielleicht gemerkt hat, ist nämlich Huldars Buch weder eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der isländischen Mentalität noch eine tiefgründige Beschreibung des Selbstfindungsprozesses. Viel mehr ist es eine herzlich witzige Liebeserklärung an Island. Huldars Bemerkungen sind lustig, die Beschreibungen der Gespräche ironisch und witzig und seine Malheurs werden selbstkritisch und autoironisch dargestellt. Der Autor entdeckt Islands Schönheit erst auf der letzten Geraden der Ringstraße, im äußersten Süden. Trotzdem ist das ganze Buch eine Lobhymne an die isländische Natur und an Island. Wo sonst kann man solch skurrilen Menschen begegnen, wo herrschen solch unberechenbaren Wettergötter und wo befinden sich solch beeindruckenden Naturwunder?
Allen Islandliebhabern möchte ich das Buch wärmstens empfehlen - ich bin mir sicher, es wird euch begeistern:)

Meine Bewertung: 5/6

Huldar Breiðfjörð, Liebe Isländer, übersetzt von Gisa Marehn, 219 Seiten, Aufbau Verlag.

"Die Hand, die man nicht beißt" Ornela Vorpsi


Auf diesen Roman war ich sehr neugierig, vor allem weil ich albanische Literatur bis jetzt noch nicht kannte.

Die Hauptprotagonistin dieses kurzen Romans, vermutlich Alter Ego der Autorin, ist aus Albanien ausgewandert und wohnt in Paris. Wir begegnen ihr während ihrer Reise in den Balkan, wo sie vor allem ihren kranken Freund in Sarajevo besuchen möchte.

"Die Hand, die man nicht beißt" ist vielmehr eine Sammlung von Überlegungen, Gedankensplitter, Bemerkungen und Erzählungen als ein zusammenhängender Roman. Die Reise in die Heimat ist der Anstoß, eigene Identität neu zu überdenken, sich an Vergessenes wieder zu erinnern und die Erinnerungen aus Tirana wieder ans Licht zu bringen.
Die Protagonistin erkennt, dass Paris noch nicht zu ihrer Heimat geworden ist, sieht aber gleichzeitig, dass ihre eigentliche Heimat ihr fremd vorkommt. Sie entdeckt zwar die vertrauen Gerüche, Farben und Geschmäcke, spürt aber, dass sie nicht mehr zu ihr gehören.

Vorpsi skizziert wunderbar ihre kurzen Beobachtungen aus den Straßen Sarajevos - es gelingt ihr den Leser zu überraschen und zum Nachdenken anzuregen. Viele ihrer Bemerkungen haben mich sehr überzeugt. Leider empfand ich das Buch als viel zu kurz, es bleibt mir nichts anderes übrig als Vorpsis zweiten Roman zu lesen.

Meine Bewertung: 4,5/6

Ornela Vorpsi, Ręka, której nie kąsasz, übersetzt von Joanna Ugniewska, 86 Seiten, Wydawbictwo Czarne

Sonntag, 1. Mai 2011

Statistik April 2011

Gelesene Bücher: 3,5
Gelesene Seiten: 697 (plus 535)

Nobelpreisträger-Challenge: 0
Reportagen-Challenge: 0
Japan-Challenge: 0
Nacht-Challenge: 0
Literaturpreis-Challenge: 0
Exoten-Challenge: 1 (Albanien)
Haruki Murakami-Challenge: 0
Familien-Challenge: 0
Farbsonnen-Challenge: 0

Das beste Buch: "Liebe Isländer" Huldar Breiðfjörð

SuB-Höhe: 120

Es fehlen noch 2 Rezensionen von Büchern, die ich im April gelesen habe - die folgen, hoffentlich, bald. Momentan stecke ich im Uwe Tellkamps "Der Turm" und habe gerade die Hälfte gelesen. Es wird noch eine Weile dauern bis ich fertig bin - die Sprache ist recht anspruchsvoll und man braucht Ruhe zum Lesen. Bei meinen beiden Kindern ist es letztens Mangelware.