Das beinahe ein Tausend Seiten starke Buch hat mich, muss ich ehrlich zu geben, gefordert. Die Lektüre erstreckte sich über mehrere Wochen und mit einem gewissen Stolz habe ich letzte Woche den Roman aus den Händen gelegt. Tellkamps Werk erfordert nämlich viel Aufmerksamkeit seitens des Lesers. Man kann den Roman nicht mal zwischendurch lesen - nicht nur wegen der anspruchsvollen Sprache, ganz prosaisch, auch wegen des Gewichts. Trotzdem wollte ich unbedingt das hochgelobte und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Werk kennen lernen und bedauere es keinesfalls.
"Der Turm" scheint eins der ersten Bücher zu sein, die so umfangreich und detailliert den Alltag in der DDR schildern. Die Handlung fängt kurz nach Breschnews Tod, 1982 an und endet am 9. November 1989. Tellkamp platziert sie in einem bürgerlichen Viertel von Dresden, wo hauptsächlich Wissenschaftler, Künstler und hochgebildete Menschen leben. Dort wohnt auch Familie Hoffmann - Vater Richard ist ein bekannter Chirurg, Mutter Anne arbeitet als Krankenschwester, deren zwei Söhne besuchen noch die die Schule. Der ältere Christian - ein fleißiger, in sich verschlossener und wissbegieriger Schüler wird zu einem der Hauptprotagonisten des Romans. Der Bruder von Anne - Meno - ist eine weitere wichtige Gestalt. Er arbeitet als Lektor in einem der Dresdner Verlage und schwärmt von eigenem Roman. Fragmente seines Tagebuches, in denen er die aktuellen Geschehnisse kommentiert, werden in und wieder in die Handlung eingebunden.
Auf den ersten Seiten seines Romans, beschreibt Tellkamp Richards fünfzigsten Geburtstag. Dieser Anlass eignet sich dem Leser alle Mitglieder der Familie vorzustellen. Die Geschwister von Richard und Anne sowie ihre Kinder, die Eltern, die Mitarbeiter von Richard bilden einen bunten Querschnitt durch die Gesellschaft. Gleichzeitig wird die Handlung ganz deutlich im ostdeutschen Alltag platziert - die ausländischen Leckereien begeistern die Gäste, ungewöhnliche Geschenke überraschen den Jubilar und die Tristesse der Umgebung wird durch das Konzert, das die jüngste Generation (fast alle spielen ein Instrument) gibt, gebrochen.
Klassische Musik, Literatur, Kunst, der Glaube an Humanismus - eine Denkweise, die in der DDR verpönt war - bezeichnen die Lebensweise der Protagonisten, die auf diese Weise versuchen die bürgerliche Kultur aufrecht zu erhalten und gegen die sozialistische Einheitshaltung zu protestieren.
Jedes Mitglied der Familie kommt in gewisser Weise mit dem politischen System in Berührung. Richard ist in politische Abhängigkeit von seinem Chef verwickelt, ärgert sich über den schlechten Zustand des Krankenhauses, fehlende Möglichkeiten für Forschung und dass er mit den Kollegen aus dem Westen nicht mithalten kann. Gleichzeitig wird er von Stasi erpresst, die dazu seine Jugendsünden und die Parallelbeziehung mit der Chefsekretärin benutzt.
Christian besucht die letzte Klasse des Gymnasiums, steht vor der Wahl des Studiums, die davon stark abhängig ist, ob er "freiwillig" für drei Jahre in die NVA geht. Die korrekte Haltung im Unterricht spielt ebenfalls eine große Rolle.
Meno wiederum bemüht sich in seinem Beruf als Lektor sowohl den Schriftsteller als auch den Zensor zufrieden zu stellen. Dank seiner Arbeit hat er viele Kontakte zu damaliger "roter" Elite, kann die Gespräche und politische Entscheidungen aus erster Hand verfolgen, was die Ursache für seinen Rückzug ist. Er igelt sich immer mehr ein und widmet sich seinen zoologischen Interessen.
Während Tellkamp das Schicksal der Familie schildert, liefert er unfassbar detaillierte Beschreibungen des Dresdener Alltags - Schlangen in den Geschäften, beengte Wohnverhältnisse, Kampf um Lebensmittel und Heizbriketts, öffentliche Badehäuser, Bürokratie und vor allem die ständige Angst vorm Bespitzeln. Gleichzeitig findet man im Roman viele fast idyllische Beschreibungen des Viertels - alte, verfallene Villen mit verwilderten, geheimnisvollen Gärten wirken beinahe märchenhaft. Der Leser schwelgt in Nostalgie und vermisst das alte Dresden aus der Vorkriegszeit. Recht interessant wirken die Beschreibungen des Sperrbezirks, wo nur die hochgestellten Funktionäre wohnen durften.
Tellkamps Schreibstil kann begeistern, man muss ihm aber erst eine Chance geben. Die langen, mehrfach zusammengesetzten Sätze, die Anhäufung von Adjektiven und Metaphern verlangen nach Aufmerksamkeit und Konzentration. Der Autor hat einen Roman geschaffen, der auf die Tradition der großen epischen Werke und des Bildungsromans zurück greift. Ich fühlte mich mehrmals an "Buddenbrooks", Kellers "Der grüne Heinrich" sowie Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" erinnert. Tellkamp nutzt jedoch auch eigene Erfahrungen - ähnlich wie Christian diente er in einer Panzereinheit der NVA und wollte Medizin studieren.
Der etwas pathetische Romananfang kann den Leser abschrecken, es lohnt sich jedoch weiter zu lesen, auch wenn hin und wieder die eine oder andere Passage überflüssig vorkommt.
Aus Tellkamps Beschreibungen wächst nämlich allmählich ein Epos heraus, eine einmalige Studie der ostdeutschen Gesellschaft.
Meine Bewertung: 4,5/6
Uwe Tellkamp, Der Turm, 973 Seiten, Suhrkamp.